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Essay: Narzissmus oder iPad-ismus?

Leben in Kurven?

Lebst Du noch oder beobachtest Du Dich schon?

„Manchmal ist es ja schon lästig, jeden Tag dasselbe zu tun. Vor allem Anfangs fiel es mir schwer. Immerhin musste ich gleich vierzig verschiedene Daten wahrnehmen, aufnehmen, manchmal messen und aufzeichnen. Eine Masse an Information, wie ich sie noch nie zuvor zusammengetragen hatte. Aber jetzt weiß ich endlich Bescheid über mich.“

So begann das Gespräch, mit meiner Sitznachbarin im Flug von Halifax nach Washington DC. Ich kann Euch sagen, ich habe auf Reisen selten etwas Spannenderes und gleichzeitig Irritierenderes gehört.

Sie hieß Anne und kam aus Detroit, lebte schon seit 4 Jahren in DC, war 34 Jahre alt, hatte einmal abgetrieben, mit 16 allerdings schon (das kam leise dahergeschämt), lebte jetzt mit einem älteren Mann zusammen, 52, hatte aber hinreichend Sex, keine Kinder, stand gern früh auf, was ihr aber wegen ihres schwachen Kreislaufs schwer fiel, litt unter ihren ungleich großen Brüsten, hatte eine Ohrenoperation gut überstanden, Plattfüße und keinen Blinddarm mehr, den Rest, ihre Zahnformel beispielsweise und die Medikamente die sie nahm habe ich nicht mehr behalten.

Das alles reichte sie mir herüber bevor wir überhaupt in der Luft waren. Nein, ich schwöre, ich kannte sie vorher nicht und bin auch nicht mit ihr zur Schule gegangen oder gar mit ihr aufgewachsen. Also, wieso erzählte sie mir das alles eigentlich?

Es lag an mir, ich hatte interessiert auf ihr iPad geguckt um zu sehen, welche App sie benutzte. Da ging sofort die Persönlichkeitsschleuse auf.

„Sie wundern sich sicher, was ich so eifrig schreibe und in Tabellen eintrage?“, fragte sie mich und bevor ich noch abwehrend den Kopf schütteln konnte, fuhr sie fort „seit dem ich das mache, bin ich mir nicht mehr fremd und jetzt weiß ich endlich über mich Bescheid.“

Nun lauschte und lernte ich mit Aufmerksamkeit. Sie war ein Self-Tracker. Ihr Leitspruch war: „Quantify my Self“. Sie erfasste sich selbst, jeden Tag, jede Minute und jeden Augenblick. Sie beobachtete ihren Körper, prüfte ihre Gedanken und dokumentierte ihre Aktivitäten. Sprich, sie notierte alles was sie tat (im eigentlichen Wortsinn) in diese App hinein.

Sie zeigte mir wie das aussah.

  • Schlaf (einschlafen, Wachliegen, Schlummern, Schlafqualität)
  • Gewicht (Morgens, Abends, zwischendurch)
  • Kalorienaufnahme (jedes Essen, total, Kauen)
  • Verdauung (Anzahl, Menge, Substanz, Farbe, Geruch …)
  • Wasserlassen (…)
  • Puls, Temperatur, Speichelfluss etc.
  • Gute Gedanken: Freundschaft, Liebe, Zuneigung, Wärme, Sex, Geilheit, Hilfe, Verantwortung, Gott …
  • Schlechte Gedanken: Wut, Ärger, Ablehnung, Vorurteil, Hass, Gleichgültigkeit, Sex (auf Nachfrage gestand sie, es sei der Wunsch Fremdzugehen oder fremden Männern auf den Ar… zu sehen) usw.
  • Aktivitäten: Arbeiten, Telefonieren, einkaufen, Tratschen, Reden, Treppensteigen, Nachdenken, Dösen, Kino, Theater, Park, Essen gehen, Sex (mit Partner, ohne Partner, Intensität des Erlebnisses) usw. …

Da wäre noch etliches Aufzuzählen, aber ich habe dann irgendwann den Überblick verloren. Ich hatte den totalen Overflow.

Ich erlitt die Erklärung ihrer Self-Tracking Balken, Linien- und Spinnennetz-Diagramme, ihren animierten Grafiken und Zahlenkolonnen, kurz ihr Leben in abstrakter Form.

Irgendwie konnte ich nicht mehr verstehen, was daran so toll ist, mit dem iPad den Durchfall der letzten Woche genau protokolliert zu sehen oder wie oft sie einkaufen war und Zwieback gegessen hatte. Auch erzählte sie mir stolz, sie hätte ihrSchlafmuster einer Künstlerin zur Verfügung gestellt und diese hätte eine Aktionskunst daraus gemacht.

Sie fühle sich nur dann sicher, wenn sie all ihre Daten auch den Freunden in Facebook zur Verfügung stellen konnte.

„I am an obsessive self quantifier” sagte sie ein bisschen traurig, aber ich glaube sie bedauerte im Wesentlichen die Zeit, die sie für die Aufzeichnungen verbrauchte. Sie zeigte mir wieder ihren iPad auf dem ein Diagramm zu sehen war und deutete auf eine Spitze in ihrem speziellen Mood-Diagramm „There I felt very, very sad“. Wer also behauptet Zahlen und Grafiken könnten nicht emotional sein? Sie erzählte mir von Freunden die an Diabetes litten, Herzerkrankungen oder Durchblutungsstörungen. Deren Vitaldaten würden permanent aufgezeichnet und stünden im Netz immer online zur Verfügung, so könnten alle Freunde sehen, wie es demjenigen gerade gehe und sich mit anderen vergleichen um ihren Zustand einzuordnen.

Mir wurde langsam schwindelig und ich dachte, dass der bei mir bisher positiv besetzte Begriff Biometrie für die Kontrolle kranker Menschen hier in sein gruseliges Gegenteil verkehrt wurde.

Beim Self-tracking verdreht sich das Gefühl für den Körper, den Geist und das Leben in sein völliges Gegenteil. Es geht um intensivste Nabelschau, abstrakten Exhibitionismus, ja, Narzissmus. Die Endeckung der Individualität wird zum Exzess getrieben um gleichzeitig in Form von gemeinsamen Tabellen wieder aufgegeben, ja gleichsam zerstreut zu werden. Ich stelle mir für die Zukunft schon Tabellen in der Tagesschau vor, in denen das durchschnittliche Verdauungsverhalten von Hessen mit dem von Niedersachsen verglichen wird, vor allem während der EHEC Zeit wäre so etwas auf allergrößtes öffentliches Interesse gestoßen. Auch das Schlafmuster von Schwaben mit dem von Berlin verglichen wäre aufschlussreich. Die mittlere Ejakulationsdauer Münchens während des Oktoberfestes wird gegen die Dauer beim Nürnberger Christkindlesmarkt gestellt (ich weiß jetzt schon wer vorne liegen wird).

Ganz interessant wird es, wenn es dann zu den Auszeichnungen für Stimmungen kommen wird. Wer war der optimistischste Bayer 2011 oder der suizidal gefährdetste Bürger Castrop-Rauxels und was ihr sonst noch so wissen wollt.

Doch zurück zu Anne.

Sie zeigte mir während des Fluges ihr gesamtes Leben der letzten Jahre. Ich kannte all ihre Gewohnheiten, Schwächen, Ängste, sexuellen Vorlieben, Facedbook und Twitter Adressen sowie einige hundert Bilder von sich und diversen Freunden und Lovern.

Während des Landeanflugs fragte ich sie, übrigens gegen meine innere Stimme die mir zuraunte sie schnell zu vergessen, nach ihrer Telefonnummer, wir könnten in D.C. ja mal essen gehen. Sie war ehrlich empört über diese Zudringlichkeit.

„Nein, mein Lieber, das geht nicht, ich kann ja nicht jedem meine sensiblen Daten anvertrauen.“

Meinen erstaunten Blick sah sie nicht mehr, sie notierte noch schnell ihre Angst bei der Landung (Puls, Körpertemperatur, schweißbedingten Hautwiderstand) sowie ein langes Gespräch mit einem aufdringlichen Fremden (bei 2 G&T ohne Eis aber mit Limone).

Morgen sehe ich auf meinem iPad bei  Facebook nach, ob ich in ihrer Stimmungskurve einen nennenswerten Zacken finde, den ich mir zuschreiben kann. Das kann ich dann bei meinen Notizen als positives Kommunikationsergebnis eintragen.

(Podcast: datensammler-selftracker-halten-jede-minute-fest.38.de DRadio)

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